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Alter ist keine Kategorie


(Photo by Ben White on Unsplash)


Vielleicht hatte es doch irgendwas Gutes, dass ich die ganze Schulzeit über eine Außenseiterin war. Das Konzept einer homogenen Gruppe, heute würde man wohl peer group dazu sagen, war mir lange Zeit gänzlich unbekannt. Damit will ich nicht sagen, dass Gruppen per se schlecht oder per se gut sind – ich kann dazu schlicht und einfach keine Aussage treffen; genauso wenig, wie ich darüber sprechen kann, wie es ist, ein Mann zu sein, Geschwister zu haben oder in den Tropen zu leben.Es mag sich seltsam anhören, aber „Alter“ ist schlicht und einfach keine Kategorie für mich, zumindest keine wertende. Mit 15 half ich einer neun Jahre älteren Freundin, ihre erste Wohnung zu streichen (pfirsischfarben); ein paar Jahre später strichen wir gemeinsam meine erste Wohnung (schönbrunnergelb). Heute, viele Jahre später, haben wir zwar längst andere Wandfarben, fahren aber immer noch gemeinsam in den Urlaub.


Da ich nie einer fixen Gruppe angehörte, quatschte ich einfach alle Personen an, die mir interessant erschienen, ganz egal, wie alt diese Menschen waren. Meine Suche war immer eher eine Suche nach meinem Stamm, meinen Leuten- als nach jenen, die zufällig mit mir in einer Altersbox gelandet waren. Diese Menschen fand ich vor allem beim kreativen Schreiben: in Schreibgruppen, Workshops und Schreib-Retreats. Das Anquatschen interessanter Menschen habe ich bis heute beibehalten (und einen Podcast daraus gemacht). Und ich habe unglaublich viel gelernt: Von den wesentlich Jüngeren, von den Gleichaltrigen und auch von denen, die dreißig oder vierzig Jahre älter sind als ich. Meine Oma, damals Anfang 90, inspirierte mich zu meiner ersten veröffentlichten Kurzgeschichte, die wiederum den Weg öffnete für weitere Beschäftigung mit dem Schreiben bishin zur Selbstständigkeit in diesem Bereich. Und viele junge Unternehmerinnen zu sehen, die teilweise schon mit Anfang 20 den Sprung in die Selbstständigkeit gewagt hatten, zeigte mir, dass man mit diesem Schritt nicht warten muss, bis man alt und weise ist und jahrzehntelange Berufserfahrung hat – eine Erkenntnis, die mein Impostor Syndrome beleidgt schimpfend von dannen ziehen ließ.


So ein Austausch ist leider nicht mehr selbstverständlich. Unsere Welt spaltet sich zunehmend in immer kleinere, immer spezifischere Bubbles auf. Die Medien gießen dabei kräftig Öl ins Feuer und bringen einzelne Gruppen gegeneinander in Position: Frau gegen Mann. Akademiker gegen Nichtakademiker. Landbewohner gegen Stadtbewohner. Jung gegen Alt. Okay, Boomer! So viele Möglichkeiten, eine potenziell konstruktive Diskussion in Sekundenschnelle im Klo runterzuspülen. Ich frage mich: Ist das wirklich produktiv? Wer, außer Statistikern, hat etwas davon, uns alle fein säuberlich in eine Von-Bis-Altersbox zu stecken?Und vor allem: Wie haben wir es so weit kommen lassen, dass wir uns schon selbst brav in vorauseilendem Gehorsam in diese Boxen legen und den Deckel über uns zuziehen?


Nein, da kann ich ja nicht hingehen. Da sind nur junge Leute, die wollen doch unter sich sein.“

Also das fange ich mir jetzt auch nicht mehr an. Wenn ich noch zwanzig Jahre alt wäre, vielleicht. Aber jetzt?“

Das kann ich doch nicht vor denen sagen. Die sind alle viel älter und erfahrener als ich und lachen mich nur aus.“

Ich kann erst meine Meinung öffentlich äußern, wenn ich erwachsen bin/mein Studium abgeschlossen habe/mehrere Jahre Berufserfahrung habe/....“



Nie gut genug, erfahren genug, geübt genug zu sein, dieses Gefühl kennen junge Menschen und vor allem junge Frauen sehr, sehr gut. Sich selbst und ihr Lernen als „abgeschlossen“ betrachten, das ist wiederum eine Einstellung, die bei älteren Menschen weit verbreitet ist. Das ist schade. Die Forschung zeigt nämlich eines eindeutig: Unser Gehirn ist plastisch. Es wächst unser ganzes Leben lang. Dieses kleine Ding, das nur zwei bis drei Kilogramm schwer ist, verbraucht zwanzig Prozent unserer gesamten Energie und ist jede Minute unseres Lebens höchst aktiv, sogar im Schlaf. Diverse Studien zeigen, dass das Lernen quasi einen neuronalen Schutz gegen diverse Formen der Demenz bietet. Oder auch, dass sich nach teilweise schweren Unfällen oder Schlaganfällen Teile des Gehirns wieder regenerieren können, oder andere Regionen ihre Funktionen übernehmen können. Und ganz abgesehen davon: Ist es nicht wunderbar, wie undemokratisch das Lernen ist? Mit 60 wird man nicht mehr zum Profifußballer oder zur Konzertpianistin – aber was spricht dagegen, dieses alte oder neue Hobby zu verfolgen, einfach weil es Spaß macht und gut tut? Ein Buch schreiben, das geht mit 20 und das geht mit 95. Ziemlich sicher würde es ein komplett anderes Buch werden, aber genau das ist doch die Schönheit daran. Meine Meinung: Wir sollten dieses Wunderwerk Gehirn mit sinnvolleren, konstruktiveren Gedanken füllen als damit, ob wir nun zu alt oder zu jung für etwas sind.


Eine etwas ausführlichere Schreibübung für dich, falls du dich öfters mit einschränkenden Gedanken herumärgerst und dein innerer Kritiker sehr laut ist:


1) Nimm einen Stift und ein Notizbuch zur Hand, stell einen Timer auf zehn Minuten und schreibe: Was interessiert mich? Versuche, dabei wirklich nur Dinge aufzulisten, die dein Herz höher schlagen lassen – nicht, was dein Chef/deine Mama/dein Partner sich von dir wünschen. Du kannst eine klassische Liste anlegen, oder ein serielles Schreiben daraus machen. Bei einem seriellen Schreiben schreibst du dir 10-15 x denselben Satzanfang vor und vervollständigst diese Sätze dann möglichst spontan und ohne dich zu zensieren:

Wäre es nicht spannend, Italienisch zu können? Wäre es nicht spannend, ein Sachbuch zu schreiben? Wäre es nicht spannend, aufs Land/in die Stadt zu ziehen? Wäre es nicht spannend, Salsa zu tanzen?


2) Nimm dir jetzt deine Liste zur Hand und spüre in dich hinein. Wo fühlst du einen Widerstand? Gibt es bei einem oder mehreren Punkten einen inneren Kritiker, der „in deinem Alter?!?“ oder ähnliches schreit? Schreibe genau auf, was er oder sie genau zu dir sagt. Lass nach jeder Aussage etwas Platz auf deinem Papier.


3) Versuche jetzt, die negativen Aussagen des Kritikers durch positive oder zumindest konstruktivere Aussagen zu ersetzen. Am besten ist es, du streichst die Aussagen durch und schreibst die neuen Glaubenssätze direkt darunter:

In meinem Alter lohnt es sich doch gar nicht mehr, eine neue Sprache zu lernen. Ich bin jetzt in Pension und habe viel Zeit, um das zu tun, was mich schon lange interessiert: Portugiesisch lernen!


Wen interessiert schon, was ich als 15jährige zu schreiben habe.Ich habe meinen eigenen, ganz persönlichen Blickwinkel und meine Erfahrungen, über die nur ich genau auf diese Weise schreiben kann.


4) Stelle erneut deinen Timer auf zehn Minuten, gerne auch mehr, wenn du geübt im Schreiben bist und gerne länger schreibst. Versuche, drei Jahre in die Zukunft zu blicken. Drei Jahre sind ein guter Zeitrahmen, da er nicht zu weit weg ist, aber trotzdem lange genug, um wesentliche und spürbare Fortschritte zu erzielen. Wie fühlst du dich, nachdem du dich wider die einengenden Gedanken für das entschieden hast, was dich interessiert? Vielleicht bist du mittlerweile so geübt im Schreiben, dass du dein erstes Praktikum bei einer Zeitung bekommen hast. Vielleicht hast du endlich deine Freundin in Portugal besucht und kannst dich mit ihr und allen anderen Menschen unterhalten, da du die Sprache mittlerweile super beherrschst. Wie geht es dir dabei? Versuche, deine Vision so konkret und sinnlich wie möglich zu machen. Was trägst du? Was machst du? Was riechst du? Was sagen andere Menschen zu dir? Wie sieht dein Alltag aus, jetzt, wo du diese schöne Sache in dein Leben integriert hast?


Viel Freude und Erfolg bei dieser Schreibübung und natürlich bei all deinen Lernvorhaben und kreativen Plänen!

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